Forschung
Komplexe Zusammenhänge interdisziplinär verstehen
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Interdisziplinäre Forschung zu komplexen Themen
Meine Hintergrundstory: Vom leidenschaftlichen Streber zum begeisterten Komplexitätsforscher und Organisationsberater
Während meiner Schulzeit hätte ich nie gedacht, dass aus mir einmal ein leidenschaftlicher Streber werden würde. Mit Feuer und Flamme stürzte ich mich ins sozialökonomische Studium an der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik, um die großen philosophischen, sozial- und geisteswissenschaftlichen Fragen und damit auch mich und mein Leben zu ergründen. Dabei liebte ich es nicht nur, in die Tiefe der einzelnen, teilweise sehr unterschiedlichen Studienfächer zu gehen – noch faszinierter war ich von den zahlreichen Querverbindungen zwischen ihnen und wie sich daraus ein übergreifender Blick auf komplexe Zusammenhänge ergaben. Doch erst im Jahre 2005, als ich nach meinem Diplom den Masterstudiengang „Friedens- und Konfliktforschung“ an der Philipps-Universität Marburg antrat, sollte ich zu einem Schlüsselerlebnis kommen, welches die Weichen für meine akademische und beraterische Karriere stellte.
Ich belegte damals einen Kurs, in dem wir Studierende mit den wichtigsten Theorien am Beispiel der Analyse des Zypernkonflikts vertraut gemacht wurden. Dabei wurde die Klasse in Gruppen aufgeteilt und jeder Gruppe wurde eine jeweils andere Theorie zugewiesen, mit der sie die Konfliktanalyse durchführen sollte. Die Gruppen sollten, die aus dem Blickwinkel ihrer Theorie durchgeführte Analyse den anderen Gruppen vorstellen und ihre Sichtweise gegenüber den Vertretern der anderen Theorien verteidigen. Ich war von dieser Aufgabenstellung irritiert, da mir schnell klar wurde, dass sich die unterschiedlichen Sichtweisen nicht widersprachen, sondern einander ergänzten.
Wäre es nicht sinnvoller, in einen Dialog zu treten, in der das unterschiedliche Wissen der Gruppen zusammengeführt würde, statt in eine Debatte, in der einseitige Darstellungen gegeneinander verteidigt würden? Inwieweit lassen sich unterschiedliche Fachperspektiven überhaupt theoretisch und praktisch integrieren? Welche Strategien ergeben sich im Umgang mit Problemen, die aufgrund ihrer Vieldimensionalität und Unvorhersehbarkeit nicht vollständig gewusst werden können? Wie lassen sich Kommunikationsprozesse zwischen den Vertreter/innen unterschiedlicher Disziplinen so gestalten, dass sie zu einer höheren kollektiven Intelligenz und Problemlösungsfähigkeit führen und zu einem angemesseneren Bearbeiten komplexer Probleme führen?
Aktueller Fokus: Komplexe Probleme lösen, Multiresilienz entwickeln helfen
Heute, angesichts vielfältiger globaler Herausforderungen, in Form komplexer Krisenbündel und Krisenkaskaden, erscheinen mir diese oben aufgeworfenen Fragen aktueller denn je. Ob in Forschungsgruppen, Think Tanks, der Produktentwicklung oder im Projektmanagement – in vielfältigen Zusammenhängen kommen Wissens- und Entscheidungsträger/innen mit unterschiedlichen Hintergründen zusammen und bearbeiten gemeinsam komplexe Herausforderungen. Um diese zu meistern, braucht es disziplinübergreifendes Denken und Kommunikation. Diese Herausforderung ist sowohl in der Theoriebildung als auch in der praktischen Umsetzung wenig erschlossen.
Im Rahmen meiner Doktorarbeit (Titel: „Integrierte Konfliktbearbeitung im Dialog“), die ich 2011 mit summa cum laude abschloss, skizziere ich Grundzüge eines disziplinübergreifenden Ansatzes für die Untersuchung und Bearbeitung von Konflikten. In meiner aktuellen Forschung untersuche ich, wie sich die Kommunikation in disziplinübergreifend arbeitenden Gruppen (wie z.B. Forschungsgruppen, Think Tanks, Performance Teams) verbessern lässt, um zu besseren Problemlösungen und Entscheidungen zu kommen. Überlegungen dazu finden sich in meinem Fachbuch „Kommunikative Komplexitätsbewältigung“ und dem Sachbuch: „Resilienz im Spannungsfeld zwischen Entwicklung und Nachhaltigkeit“.
Seit 2019 begleite ich als Mitglied des Zukunftskreises des BMBF den Foresight-Prozess. Im Fokus stehen dabei das disziplinübergreifende Analysieren möglicher Zukunftsverläufe für die Bundesrepublik und Europa, das Antizipieren technologischer und sozialer Innovationen und wie sich die Bundesrepublik multiresilient auf unvorhersehbare Entwicklungen vorbereiten kann. Aktuelle Trendstudien finden sich hier (Zukunft von Werten) und hier (Zukunftsthemen).
Auf Grundlage meiner Forschung unterstütze ich Teams und Einrichtungen aus Wissenschaft und Politik dabei, komplexe gesellschaftliche Themen interdisziplinär und transdisziplinär zu erfassen und resiliente Strategien angesichts komplexer globaler Krisen zu entwickeln.
Dr. Karim Fathis Forschungsthemen im Überblick
Empathie 3.0 - Wie wir Stressfähigkeit und Einfühlsamkeit in Einklang bringen können
Empathie gehört derzeit zu den umstrittensten Kompetenzen. In einer Welt zunehmender Verflechtungen und Interdependenzen erweist sie sich als essenziell, um die Folgen unternehmerischer und politischer Entscheidungen einzuschätzen und entsprechend nachhaltig zu handeln. Zugleich birgt Empathie das Risiko der emotionalen Ansteckung, welche sich durch die sozialen Kommunikationsmedien unkontrolliert massenhaft verstärken kann. Auch scheint Empathie angesichts zunehmender Stresserkrankungen und Reizüberflutung eher hinderlich – hier bräuchte es, so einige Forscher/innen, womöglich eher das Gegenteil von Empathie. Schließen sich authentisches Einfühlungsvermögen und echte Resistenz gegenüber digitalen Resonanzkatastrophen und Stress aus? Wenn nein, was hat es mit dieser Art von Empathie auf sich? Wie grenzt sie sich von „emotionaler Ansteckung“ ab und wie lässt sie sich entwickeln? Eine Antwort liefert „Empathie 3.0“ – eine in uns allen angelegte, auf Achtsamkeit, innerer Zentrierung und emotionaler Weisheit beruhende Empathie. Diese „Universalkompetenz“ ist auch wesentlicher meiner Beratungs- und Coachingpraxis. In meinem Ratgeber „Das Empathietraining“ findet sich ein detailliertes Konzept zum Entwickeln von Empathie 3.0.
Multi-Resilienz - Wie wir uns vor Vielfalt von Krisen wappnen können
Angesichts der Vielfalt gegenwärtiger Krisen auf organisationaler und gesellschaftlicher Ebene wird „Resilienz“ (Widerstandsfähigkeit) als Universalantwort diskutiert. Doch was bedeutet es für ein kollektives System, wie z.B. einer Organisation oder einer Gesellschaft, gegenüber völlig unterschiedlichen und gleichzeitig unvorhersehbaren Ereignissen, wie z.B. Finanzkrisen, Naturkatastrophen, Cyberterrorismus, disruptiven Marktentwicklungen, Coronapandemie, internationalen Kriegen gewappnet zu sein? Aus Forschungsperspektive steht fest, dass derartige Überlegungen einen disziplinübergreifenden Ansatz erfordern. Vor diesem Hintergrund widmet sich meine Forschung den Chancen und Grenzen eines transdisziplinären Resilienz-Konzepts und ihrer praktischen Bedeutung für krisenfeste Organisationen und Gesellschaften. Auf Grundlage von Einsichten aus dem Systems Thinking und dem Integrative Thinking leite ich fünf Pfeiler ab, die Orientierung darüber geben, wie Gesellschaften und Organisationen Multiresilienz entwickeln können. Mit Multiresilienz ist die Kapazität eines Systems gemeint, auf vielfältige, gleichzeitig auftretende Probleme antworten zu können. In meinem Sachbuch „Resilienz im Spannungsfeld zwischen Entwicklung und Nachhaltigkeit“ finden sich detaillierte Überlegungen.
Kommunikation als Stellschraube für Komplexitätsbewältigung
In unterschiedlichsten Konstellationen kommen Wissens- und Entscheidungsträger/innen aus Zivilgesellschaft, Privatwirtschaft, Wissenschaft und Politik zusammen, um gemeinsam komplexe Probleme zu bearbeiten. Forschungsgruppen, Think Tanks, Performance Teams, Konferenzen, Multi-Stakeholder-Dialoge stellen nur einige Beispiele dar. Dies ist nicht nur eine kognitive, sondern vor allem auch eine kommunikative Herausforderung. Wie können sich z.B. ein Soziologe, ein Architekt, ein Ingenieur, die gemeinsam an einem Forschungsprojekt über die Zukunft der Stadt beraten, effektiv verständigen? Eine Lösung dieser Frage könnte zu wesentlich zu neuen Einsichten und guten Entscheidungen bei vielen aktuellen Problemlösungen beitragen. Denn: die Problemlösungsfähigkeit eines kollektiven Systems (z.B. Team, Organisation) steigt, je besser ihre interne Kommunikation ist. Weitergehende Überlegungen finden sich in meiner Publikation „Kommunikative Komplexitätsbewältigung“.
Wissenschaft 3.0 - Transdisziplinarität weiterdenken
Heutige komplexe Entwicklungen, wie z.B. Klimawandel, digitaler, urbaner oder demografischer Wandel, lassen sich nicht adäquat mit nur einer Einzeldisziplin erfassen. Der aktuelle Diskurs geht in diesem Zusammenhang bereits in die dritte Runde. Seit den 2010er Jahren wird von der „Wissenschaft 3.0“ gesprochen – einem Wissenschaftsverständnis, das sich nicht nur der transdisziplinären Forschung verschreibt, sondern auch Transformationsprozesse aktiv anstößt. Dies ist durchaus umstritten. Was konstituiert disziplinübergreifende Wissenschaftspraxis? Was sollte die gesellschaftliche Rolle von Wissenschaft sein? Inwieweit trägt gute Theoriebildung zu guter Praxis bei? Inwieweit sind Methoden aus der Achtsamkeitspraxis (z.B. Meditation) „wissenschaftlich gültige“ und „legitime“ Methoden der Erkenntnisgewinnung? Erste Antworten auf diese strittig diskutierten Fragen gebe ich unter anderem in meiner Publikation „Kommunikative Komplexitätsbewältigung“.
Kollektive Weisheit - die völlig unterschätzte Komponente in komplexen Zeiten
Kollektive Intelligenz stellt eines der grundlegendsten Komponenten eines soziales Systems, wie z.B. ein Team oder Organisation, um komplexe Probleme aller Art zu bewältigen. Kollektive Intelligenz bringt nicht nur neue Errungenschaften mit sich (z.B. den digitalen Wandel), sondern auch unbeabsichtigte Nebenfolgen (z.B. Cyberterrorismus) und neue Verwundbarkeiten (z.B. Technologieabhängigkeit moderner Gesellschaften). Das derzeit völlig vernachlässigte Gegengewicht ist kollektive Weisheit. Ungeachtet der Frage, was alles möglich und erreichbar ist, ermöglicht uns Weisheit, einen Schritt zurückzutreten und zu identifizieren, was wir überhaupt wollen und warum und wo wir hinsollten. Ein aktuelles Thema, zu dem ich in diesem Zusammenhang publiziere, ist Transhumanismus. Was passiert mit dem menschlichen Ich, wenn es uns bald möglich ist, unser Bewusstsein mit Künstlichen Intelligenzen zu verbinden und in einen Computer hochzuladen? Ist es sinnvoll, einige Entwicklungswege (noch) nicht zu beschreiten, da die Gefahr unbeabsichtigter existenzieller Risiken zu hoch ist? Wie lässt sich „nachhaltiger Fortschritt“ designen? Kollektive Intelligenz und kollektive Weisheit gilt es in nahezu jedem Innovationsprozess zu berücksichtigen.
Resilienz vs. Entwicklung vs. Nachhaltigkeit - drei politische Leitbilder im Spannungsverhältnis
Angesichts vielfältiger globaler Herausforderungen in Form komplexer Krisenbündel rückt die Frage nach gesellschaftlicher Zukunftssicherung im 21. Jahrhundert mehr denn je in den Fokus. In der aktuellen Politik und Diskussion lassen sich mindestens drei Leitbilder ausmachen, die die Politikgestaltung moderner Gesellschaften antreiben: Die „entwickelte Gesellschaft“, die „nachhaltige Gesellschaft“ und neuerdings die „resiliente Gesellschaft“. Alle drei Leitideen stehen in einem ambivalenten Verhältnis zueinander – ein typisches Spannungsverhältnis zeigt sich meist zwischen dem im Enwicklungsleitbild angelegten Motiv des ökonomischen Wachstums und dem im Nachhaltigkeitsleitbild angelegten Anspruch, die planetaren Ressourcen zu bewahren. Zugleich finden sich auch diverse Schnittstellen und vor allem wechselseitige Ergänzungspunkte. Gesellschaftliche Zukunftssicherung im 21. Jahrhundert wird nicht daran vorbeikommen, alle drei Leitkonzepte in der Politikpraxis zu berücksichtigen und zu integrieren. Derzeit findet sich in nahezu allen Gesellschaften ein einseitiger Fokus auf die „entwickelte Gesellschaft“. Meine Überlegungen verdichten sich in meinem Sachbuch „Resilienz im Spannungsfeld zwischen Entwicklung und Nachhaltigkeit„.